Die Kirchturmglocken kündeten den Mittag an, als Willi langsam den Feldweg entlang humpelte.
Nicht nur, dass er nach dem Gottesdienst nicht sofort nach Hause gekommen war, nein, auch sein gesamtes Erscheinungsbild dürfte den sonntäglichen Familienfrieden sehr in Frage stellen. Mit dem letzten Funken Hoffnung, noch irgendwas zu retten, wischte er seine vor zwei Stunden noch hochglänzenden Schuhe an einem Grasbüschel ab.
Naja, es heißt ja, dass der gute Wille zählt …
Aber die Schuhe waren ja nicht alles, was seit heute Vormittag ein völlig anderes Erscheinungsbild bekommen hatte: Die Strümpfe zum Beispiel trennten nun Welten von dem Farbton , den seine Mutter mit Blütenweiß umschreiben würde. Vom arg zerschundenen Knie war darüber hinaus ein Blutstropfen gelaufen, der sich auf Knöchelhöhe mit Staub und Socke vereinigt hatte.
Oh Mann! Und dann war auch noch eine Naht an der Hosentasche ausgerissen und auf dem guten weißen Sonntagshemd prangten mehrere Blutflecken …!
„Der Tag ist gelaufen,“ sagte Willi leise und in Gedanken erlebte er bereits das ganze Szenario, dass ihn am heutigen Sonntag erwartete:
Eine Standpauke, weil er mit zerrissenen Kleidern heimkam!
Ausschluss von der Sonntagstafel in der guten Stube!
Keinen Kompott zum Nachtisch!
Und das alles nur zur Strafe, weil er sich ganz offensichtlich gerauft hatte.
Er verlangsamte seinen Schritt, weil es ja so wie so keine Chance gab, auf die Ereignisse des Tagesablaufes noch positiven Einfluss zu nehmen.
So erreichte er mit gesenktem Kopf den elterlichen Hof und schloss gerade das Gartentor hinter sich, als vor dem Haus ein vornehmer Wagen anhielt. Der Fahrer, ein beleibter Herr mit Hut, hupte ein paar Mal bevor er ausstieg und winkte aufgeregt. Dann flogen die anderen Autotüren auf und eine vornehme Dame quälte sich aus dem Gefährt, gefolgt von zwei Mädchen in allerfeinsten Kleidern.
Noch bevor Willi einen Entsetzensschrei loswerden konnte, weil er seine Verwandtschaft aus Berlin erkannte, hörte er wie seine Eltern und Geschwister, die vorne aus dem Haus stürmten, um die Ankömmlinge zu begrüßen.
’Oh, Mann! Ich hätte nie gedacht, dass ich mich über diesen Besuch mal freuen würde‘, sagte er leise und nutzte die Gunst der Stunde, einfach durch die Hintertür ins Haus zu verschwinden. In der Begrüßungseuphorie der Erwachsenen konnte er unbemerkt den kritischen Blicken seiner Mutter entkommen. Am Küchenfenster verfolgte Großmutter das familiäre Treiben, die nicht mehr so gut zu Fuß war und lieber hier auf die Gäste wartete.
„Oh, Willi! Wie siehst du denn aus? Und wo kommst du jetzt her?“
„Oma, das erzähle ich dir später. Habt ihr schon gegessen?“
„Nein, wir haben auf Onkel Oskar, Tante Erika und die Mädchen gewartet. Sonst wären wir um diese Zeit schon längst fertig. – Aber wenn deine Mutter dich so sieht, ist das Essen für dich sowieso vorbei, noch bevor du einen Happen im Mund hattest.“
„Daher habe ich es ja auch so eilig. Ich möchte mich eben umziehen und waschen. Dann kann die Katastrophe über mich hereinbrechen, wenn die Berliner wieder weg sind. Schau mal, kannst du heimlich die Naht an der Tasche nähen ohne dass Mama etwas davon bemerkt?“
„Bursche, ich kann alles Mögliche heimlich machen. Sogar morgen das Blut aus dem Hemd waschen. Aber dein blaues Auge bekomme ich nicht wieder hin. Du bist doch ganz offensichtlich wieder in eine Prügelei gekommen, nicht wahr? Und das am hochheiligen Sonntag!“
Willi war in sein Zimmer gerannt, hatte sich den gröbsten Schmutz abgewaschen und dann seine Kleidung angezogen, die er sonst nur zur Schule trug. Beim Blick in den Spiegel teilte er jedoch Omas berechtigten Zweifel, dass man sein dunkel umrandetes Auge irgendwie übersehen könnte.
Als er in die gute Stube kam, waren die Gäste und seine Familie bereits um die festlich gedeckte Mittagstafel versammelt.
“Oh, das ist er ja, der kleine Raufbold,“ begrüßte Tante Erika ihren Neffen, als er hereinkam und zwickte ihn unsanft in die Wangen.
“Willi, das klären wir später,“ zischte seine Mutter böse hinterher.
Zum Glück durfte Willi trotzdem an der großen Tafel Platz nehmen und mit seinen drei Geschwistern, Eltern, Großeltern und dem Besuch aus Berlin zusammen essen.
“Tja, Heinrich, dein Sohn kommt da wohl so ganz und gar nach dir, was? Du hast früher auch keine Rauferei ausgelassen. Ein Samstag ohne Wirtshausschlägerei war für dich doch auch ein langweiliger Wochenendausklang.“ Tante Erika liebte es, ihrem Vetter gegenüber mit zynischen Bemerkungen zu sticheln. Die Betonung des Standesunterschiedes war ihr nur allzu wichtig, seit ihr Mann diesen hohen Posten in Berlin innehatte.
“Willi wird schon seinen Grund gehabt haben,“ verteidigte ihn Vater.
“Davon bin ich überzeugt. Anlässe hast du ja auch immer gefunden. Ist scheinbar bei Leuten deines Standes so üblich. Wenn man nicht den Geist hat, sich nicht mit Worten zu wehren….!“
Die Nasen der Mädchen gingen gleichzeitig noch ein Stück höher, so dass es ihnen bei dem vornehmen Getue fast nicht gelang, ihre Suppe zu löffeln, ohne etwas auf ihre Kleider zu kleckern.
Onkel Oskar merkte schmatzend an:
“Ja, da hat Erika recht. Menschen mit Niveau setzen sich mit Worten auseinander. Ansonsten gibt der Klügere nach.“
“Daher greift die Dummheit immer weiter um sich,“ platzte es Willi heraus und er fing sich eine saftige Ohrfeige seiner Mutter ein.
Dann erzählte Tante Erika von den Veränderungen des Alltags in Berlin, seit dieser Österreicher an der Macht ist. Die Nachbarschaft hätte sich doch sehr verändert, weil in der Straße so viele Familien weggezogen waren. „Sogar Gustav Silbermann ist weg. Kennst du den nicht auch noch – Oskars Schulfreund, dessen Eltern schon vor über zwanzig Jahren unten an der Ecke den Lebensmittelladen hatten. Aber stellt euch mal vor: Da kommt er doch tatsächlich nachts zu uns und fragt, ob wir seine Kinder verstecken könnten. Die Gestapo wäre schon bei ihm im Nachbarhaus. Das ist ja wohl eine Unverschämtheit – nur weil die beiden mal Schulfreunde waren, legen wir uns doch nicht mit der Gestapo an. Dieser Silbermann hatte doch allen Ernstes geglaubt, wir würden uns in die Nesseln setzen, indem wir seine Buben im Keller verstecken. Also ich hätte meinen Schulfreund nicht mit sowas behelligt, wenn ich weiß, wie brutal die Staatsbediensteten so vorgehen! Da hätte Oskar sich ja mit ganzer körperlicher Kraft vor diese fremden Blagen stellen müssen und dabei sich und seine Familie auch noch gefährdet. Außerdem hat er ja nun mal sein Prinzip. Keine Gewalt! Wer Gewalt säht, wird darin umkommen!“
Opa schlug mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klapperte und versuchte erst gar nicht, seinen Unmut zu kaschieren:
“Jawoll, so geht es auch! Immer den Kopf einziehen und die anderen machen lassen! Was glaubst du denn, wie oft ich 1914 - 17 im Krieg meinen Kameraden zur Hilfe gekommen bin? Was wäre das Leben eines Soldaten wert, wenn er sich nicht darauf verlassen kann, dass sein Mitkämpfer sich schützend vor ihn stellt, wenn er sich in einer Lage befunden hat, dass der Feind ihn töten konnte? Da habe ich auch nicht gedacht: ’Oh, prima, der Franzose kämpft ja mit einem anderen. Dann mach ich, dass ich wegkomme, bevor ich selbst dran bin.“
„Ach, Onkel Otto, im Krieg! Das ist doch ganz was anderes,“ rechtfertigte sich Tante Erika.
“Gar nicht,“ empörte sich Willi. „Es geht doch darum, sich für den anderen einzusetzen! Gerade, wenn viele andere wegsehen und sich aus der Affäre stehlen, darf man die Schwachen nicht allein lassen! Nur dadurch bekommen diese Feiglinge ihre eigentliche Macht. Dadurch, dass eben viele wegsehen und nichts tun!“
Willis Vater blickte zornig zu ihm rüber und schlug erbost auf die Tischkante, weil sich Kinder nicht in Erwachsenengespräch einzumischen haben.
Das war Öl in Tante Erikas Feuer.
“Na, du vorlauter Bengel, musst dich gerade zu Wort melden;“ keifte sie ihn an. „Das passt dir gut in den Kram, nicht wahr? Dass dein Großvater dir auch noch eine willkommene Bestätigung für deine eigene Unbeherrschtheit und Rauflust liefert. Wahrscheinlich wirst du uns noch erzählen, dass du gar nichts dafür konntest, in die Prügelei geraten zu sein oder dass du sogar ein gutes Werk getan hast.“ Ihr Kopf lief bei der Aufregung rot.
Doch Willi ließ sich nicht von den strengen Blicken seiner Eltern einschüchtern, sondern schaute kurz zu Opa herüber, der offenbar genauso dachte wie er:
“Ja, ja, Tante Erika,“ sagte er. „Ich weiß sehr wohl, dass ich mich nicht prügeln soll. Aber wenn es eben nicht anders geht, dann kneife ich auch nicht.“
Bevor einer der Anwesenden noch etwas einwenden konnte, forderte Oma Gerda ihren Enkel mit liebevoller Strenge auf, sein Verhalten zu erklären.
“Ach Oma, ich war sofort nach der Heiligen Messe heimgegangen. Ehrlich! Aber unten am Marktplatz da waren dann die beiden Söhne vom Bürgermeister und die ganzen Burschen von den Jansens, Meiers und Hoppenstedts. Die Kerle sind doch alle mindestens zwei Jahre älter und eine ganze Ecke größer als der kleine Hubert von Bauer Horn. Du weißt doch, der kleine Hubert mit dem kranken Fuß, der sowie immer humpeln muss. Und diesem kleinen Knirps hatten sie das Holzpferd weggenommen, das er von seinem Opa hat und so gern hinter sich herzieht. Dann haben sie gerufen: ‚Los, hol es dir doch! Hier ist es! Fang es doch! Na, los!’ Und sie haben sich das Pferd einander zugeworfen, immer wenn Hubert gerade herangehumpelt war. Hinke-Hubert hat leise angefangen zu weinen, wie ein Mädchen. Die großen Jansens haben ihn dabei auch noch ausgelacht! Als ich dazu gekommen war, habe ich dem dicken Gustav von Meiers das Pferd aus der Hand gerissen, ihn als Feigling beschimpft, ihn an der Schulter geklapst und Hubert das Spielzeug wiedergegeben. Daraufhin sind dann seine Brüder gekommen, haben mich erst geschubst und dann geschlagen. Das habe ich mir nicht gefallen lassen und mich gewehrt. Dann kamen die Meiers dazu und so nach und nach hatten sich alle eingemischt. Hinke-Hubert ist so schnell er konnte mit seinem Holzpferd verschwunden. Ich weiß, dass die Prügelei nicht in Ordnung ist. Aber wer war denn mehr im Unrecht? Die Söhne vom Bürgermeister, weil sie mit einem schwächeren ihren Schabernack getrieben haben? Oder die Jansens, die einfach mitgemacht haben? Die Meiers und Hoppenstedts, weil sie zu feige waren, gegen die anderen anzutreten oder es lustig fanden, dass sie nicht selbst veralbert oder gehänselt wurden?
Oder bin ich der Schlimmste von allen, weil ich dachte, dass doch wenigstens einer dem Schwächsten beistehen muss ...?“