Mit meinen Freundinnen schlendere ich durch unser Dorf.
Marie erzählt uns schon eine ganze Weile von dem Bild, das ihr Cousin ihnen geschickt hat.
“Ich weiß gar nicht, wer das sein soll. So ein Mann mit dunklen Haaren und mit einem albernen Bärtchen unter der Nase. Das ist so schmal, dass er es mit zwei Fingern abdecken könnte. Und diesen komischen Kerl sollen wir jetzt unbedingt in der guten Stube aufhängen, hat Albert geschrieben. In der guten Stube! Stellt euch das mal vor! Da, wo eigentlich nur das Hochzeitsbild von Mama und Papa hängt ...“
Marie ist völlig aufgebracht. Ich kann ihre Aufregung nicht gut verstehen. Sollen ihre Eltern doch den Mann im Schrank verschwinden lassen. Mir ist das im Moment jedenfalls so ziemlich egal, was unsere Nachbarn mit ihren Bildern machen.
Meine Gedanken sind längst bei unserem Sonntagsbraten.
In einer halben Stunde ist es soweit. Ich freue mich auf den Festschmaus und vor allem auf den Pudding zum Nachtisch. Mama kocht nämlich immer etwas Besonderes, wenn wir Besuch bekommen. Hoffentlich sind die Gäste nicht allzu ausgehungert. Onkel Gustav und Tante Hermine, die feinen Verwandten aus der Stadt, kommen zufällig immer um diese Jahreszeit. Kaum, dass Vater das Schwein geschlachtet hat, liegt unser Hof zufällig auf ihrem Weg.
Keine Ahnung woher diese Leute gerade kommen und wohin sie fahren. Aber dass der Weg zufällig immer bei uns vorbei führt, ist sicher gelogen.
Ansonsten sind wir für sie eh nur einfache Bauern.
Einfach und doof.
Jedenfalls tun sie immer so, als würden Leute, die in der Stadt wohnen, was Besseres sein. Und klüger eben – klug genug, dass sie sich einige Annehmlichkeiten leisten konnten, die den Leuten vom Land nicht mal bekannt sind.
Aber was wir nicht kennen, vermissen wir eben auch nicht – es sei denn, es kommen Leute aus der Stadt und prahlen damit, als wenn sie uns neidisch machen wollten.
Mama und Papa sagen auch, dass sie die Stadtpomeranzen nicht recht leiden können - aber erst, wenn sie wieder weg sind. Bis dahin ist immer Friede-Freude-Eierkuchen (wenn es den mal wenigstens gäbe ...). Da heißt es, dass Blut dicker sei als Wasser und dass man als Verwandtschaft zusammenhalten müsse. Nur meine Frage, „Warum eigentlich?“ haben sie immer nur mit einen bitterbösen Blick beantwortet.
Wie auch immer - ich jedenfalls muss mit denen absolut nicht zusammenhalten! Jedenfalls nicht, wenn es darum geht, unser Fleisch, unsere Kartoffeln und unser Gemüse aufzuessen! Das schaffen wir mit unserer Familie und dem Knecht und der Magd auch ganz allein. Aber davon verstehe ich noch nichts, sagt Oma dann.
Na gut, wenn es denn sein muss, dann kommen sie eben, die feinen Pinkel.
Zumindest gibt es dadurch außer der Reihe mal einen großen Braten! Das ist aber auch das einzig Gute, was der Besuch mit sich bringt.
Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass ich die ganze Stadtmischpoke unausstehlich finde. Oh, wie ich es hasse, wenn Tante Hermine mir zur Begrüßung in die Wange kneift oder sich über meine roten, dünnen Zöpfe lustig macht.
“Na, dein Karottenblond wird ja auch immer leuchtender,“ hat sie beim letzten Mal gelästert und sich vor Lachen fast ausgeschüttet. Als ob sie selbst mit ihrer spitzen Nase und den gebleichten Haaren eine Schönheit wäre!
Und wenn ich das alles überstanden habe, kommt das Schlimmste im Doppelpack:
Ihre Töchter Charlotte und Genoveva! Ganz sicher sind sie auch wieder dabei und wenn wir dann nach dem Essen spielen sollen, bleibt wieder alles an mir hängen.
Ich muss mit diesen feinen Prinzessinnen spielen dürfen!
Aber was soll ich mit denen anfangen?
Sie dürfen sich ja nicht einmal schmutzig machen, können in ihren feinen Lackschuhen nicht richtig rennen, um fangen zu spielen, und mit ihren feinen Spitzenkleidchen dürfen sie sich nicht einmal hinter einen Busch hocken, um sich zu verstecken.
Wenn Mama dann wieder vorschlägt, ich solle doch meine Resi mit den Wollhaaren und den Puppenwagen herholen, werde ich hoffentlich tot umfallen.
Okay, nicht ganz tot.
Nur ein bisschen angetötet – nur so viel, dass ich für den Rest des Tages im Bett bleiben müssen darf. Dann kann Oma den Spitzenkleidchen-Ziegen ja eine Geschichte vorlesen, bis Mama und Papa den Wurstwegfressern genug eingepackt haben, dass sie einige Zeit was zum Kauen haben.
Wenn es in der Stadt schon so viel besser ist, als auf dem Land, dann kann mir doch keiner erzählen, dass es da nichts zu essen gäbe!
Wenn da so reiche Leute wohnen, dass sie sich ein großes Haus und ein Auto und sogar manchmal drei gute Kleider leisten können, dann wird doch da auch ein Fleischer und ein Gemüseladen sein, wo Tante Hermine für sich und ihre Engelchen etwas einkaufen kann!
Wir haben ja hier im Dorf sogar einen Laden, wo wir Zuckerstangen und Schuhcreme und Töpfe und auch sonst alles kaufen können, was man im Leben so braucht!
Dann wird es in der Stadt doch so was auch geben, oder?
Ja, ganz bestimmt gibt es da sowas! Ich würde zu gern mal hinfahren, um zu gucken. Aber so viel Geld haben wir nicht, sagt Vater.
Es ist alles so ungerecht! Onkel und Tante haben genug Geld, feine Kleider, ein Auto und bekommen hier noch reichlich von dem, was wir selbst gut brauchen können! Und ihre ‚Engelchen‘ bekommen auch noch hier und da ein Scheibchen Wurst oder Schinken, falls sie zufällig gerade dann in der Küche auftauchen, wenn Mutter das Abendbrot herrichtet!
Ha! Zufällig!
Die passen genau auf, wenn Mama in die Speisekammer geht! Meine Geschwister und ich bekommen nie ein Fitzelchen Wurst oder Schinken extra, nur mal so. Aber diese beiden Großstadtgören! Wenn es um etwas Besonderes, etwas Extra geht, da bekommen die beiden einen Schlund, dass eine Fußmatte durch passen würde! Wenn es nur etwas gäbe, was ihnen ein für alle mal den Appetit verdirbt!
Das wünsche ich mir - und gehe ins Kinderzimmer. Noch nie zuvor habe ich bereits im Sommer meinen Wunschzettel ans Christkind geschrieben …
Die ersten Schneeflocken fallen, Mutter und Oma backen Weihnachtsplätzchen, als müssten sie die ganze Welt damit versorgen. Für die ganze Welt würde es vielleicht nicht reichen, aber zumindest noch für die große Stadt, in der unsere Feine-Leute-Verwandtschaft wohnt.
Ha! Und dann fallen mir wieder die Wurst- und Schinkenstücke ein, die diese Großstadtmischpoke immer bekommen hat, während für mich und meine Geschwister nie etwas zusätzliches da gewesen ist!
Heimlich schleiche ich mich in die Speisekammer, wo Mutter das Paket für Onkel Gustavs Familie bereits zusammengestellt, aber noch nicht zugeschnürt hat. Ich öffne heimlich die darin mit Plätzchen gefüllte Papiertüte, pople in beiden Nasenlöchern - und freue mich, die guten Gaben um meinen persönlichen Anteil zu bereichern.
Kichernd gehe ich wieder hinaus und freue mich diebisch über meinen kleinen Rachestreich!
Eine Weile wenigstens, denn dann bekomme ich doch Gewissensbisse. War ja doch eine mächtige Sauerei, sowas…
Also schleiche ich mich erneut in die Kammer, hole leise den Karton wieder vor, öffne die Tüte und greife gerade meine beiden „besonderen“ Plätzchen – da macht es nur KLATSCH!
Ich reibe mir die brennend schmerzende Hand und schaue Mama vorwurfsvoll an.
„Zum Donnerwetter", schimpft sie. „Die Plätzchen sind nicht für dich! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du hier nichts zu suchen hast! Und an den Paketen schon mal gar nicht! – Jetzt mach, dass du rauskommst, sonst ... !“
Oh, Mann! Mutter ist ernsthaft sauer und ich fürchte, das Ganze wird noch ein Nachspiel haben. Doch im Moment merke ich nur, dass sich mein eben noch schlechtes Gewissen wohltuend erleichtert.
Ich wollte meine ‚eklige Gemeinheit‘ ja wieder gut machen – der gute Wille war ja da …!
„Hihi,“ kichere ich in mich hinein, während ich am Heiligen Abend die Plätzchen von meinem Weihnachtsteller nasche. Als Mutter die Kerzen am Weihnachtsbaum löscht, hocke ich noch immer vor der Krippe und betrachte die Heilige Familie. Als ich vorsichtig die Figuren noch einmal zurechtrücke, ist es mir, als zwinkere mir das Kind in der Krippe lächelnd zu …