„… du olle Nostalgietante, du …“, hat mein Kollege zu mir gesagt und sein Tonfall lässt keinen Zweifel daran, dass er das nicht als Kompliment gemeint hat.
„Nostalgietante? Was genau soll das denn sein? – Warte. Lass mich raten: Du meinst, das ist jemand, der Traditionen pflegt, Rituale schätzt und vielleicht auch ein Faible für alte Dinge hat?“
„Genau. Gut geraten. All das ist so typisch für kleinkariertes Spießbürgertum.“
„Ach ja? Traditionen, Rituale und alles, was irgendwo in der Vergangenheit verwurzelt ist – all das ist für dich also ein Synonym für Engstirnigkeit und geistige Unbeweglichkeit?“
„Jawollja! Du hast es erfasst! Traditionspflege – da weht einem doch schon der Modermuff von gestern entgegen. Nur weil deine Vorfahren das schon so gemacht haben, kann es ja nicht verkehrt sein, oder was? Übernimmst du das, weil du gelernt hast, ein braves Mädchen zu sein und nichts von den „Großen“ in Frage zu stellen? Oder bist du einfach nur bequem? Vielleicht hast du ja einfach keine Lust und Zeit, dich der Gegenwart zu stellen.
Wie auch immer … hör mir bloß mit Traditionen und dem ganzen Kram auf!“
„Oh, du kennst also keine Tradition, kein Ritual oder sowas, das irgendwie zu deinem Leben gehört? Du bist wirklich aufgewachsen, ohne sowas kennenzulernen?“
„Ja! Zum Glück! Mensch, bleib mir bloß mit solchem Traditions- und Brauchtumsgedöns vom Leib! Wohlmöglich schwärmst du jetzt noch von so einem bescheuerten Schützenfest oder sowas, wie? Ha! Bewaffnete Männer in Pseudo-Jägerkluft und Frauen in Festkleidung – beide früher oder später so sturzbesoffen, dass sie sich kaum auf den Beinen halten können, wenn sie sich draußen am Festzelt den Abend noch mal würgend durch den Kopf gehen lassen … Ähh! Schlimmer geht’s nimmer.“
„Das stimmt. Aber das ist auf dem traditionellen Oktoberfest auch nicht anders.
Nur dass sich da eben die die Reichen und Schönen einen Wettstreit liefern, welches Erbrochene bunter ist. Doch wenn einige Leute mit ihrer Feierfreude übers Ziel hinausschießen, heißt das ja nicht, dass deshalb die Tradition als solches schlecht ist.
Was ist denn mit Veranstaltungen zu Karneval, mit Stadtfesten, Jahrmärkten, alles rund um Weihnachten und Sylvester und so. Sind die auch so schlimm?“
„Das ist doch ganz was anderes!“
„Ach ja? Das eine ist eine Tradition und das andere? Lass mich raten: auch eine Tradition? Richtig!
Zugegebener Weise nehme ich auch nicht an jeder Veranstaltung teil, denn die eine mag ich, eine andere aber eben nicht. Und dennoch finde ich wichtig, dass sie bestehen dürfen.
Sie sind ein Stück unserer Kultur!
Und darüber hinaus haben private Traditionen dann noch einmal eine besondere Gewichtung. Geburtstage, Jubiläen – sie bieten doch die Chance, aus dem Alltag auszubrechen. Rituale können diese Tage zu besonderen machen. Je individueller, desto besser.“
„Individuelle Rituale?“
„Ja, genau. Aber sowas kennst du ja nicht.
Pass auf – ich zum Beispiel treffe mich jedes Jahr mit meiner Freundin zum Geburtstag. Wir essen – wie damals, als wir zusammen im Kindergarten waren – traditionell ein Stück Apfelkuchen und trinken eine Tasse heißen Kakao.
Jedes Jahr.
Der Brauch ist nun Jahrzehnte alt und wir pflegen ihn immer noch – weil wir beide damit ein Stück unserer schönsten Kindheitstage lebendig halten. Würden eine von uns sagen:
‚… ach, komm. Das ist doch albern. Für sowas sind wir doch zu alt. Den Quatsch lassen wir ab jetzt …‘
dann käme es mir vor, als würde ein bis dahin lebendiges Stück meiner Kindheit enden. Doch solange der Brauch gepflegt wird, darf auch ein Stück des kleinen Mädchens von damals in mir weiter existieren.
Und weißt du was? Ich genieße es! Und wie mit allem, was mich glücklich macht, werde ich einfach damit weitermachen. Gegen jeden Widerstand …“
„… glaub ich dir, du olle Nostalgietante, du …“, sagte mein Kollege noch mal.
Mit diesem Tonfall hätte er mir auch direkt ins Gesicht sagen können, dass er mich für eine mit Gegenwartsphobie hält, die nichts im Hier und Jetzt verloren hat – außer vielleicht ihren Verstand. Kurzum: Ich bin nett, aber doof.
Stellt sich nun die Frage, wie ich darauf reagieren soll.
Schweigen – und ihm damit Zustimmung geben?
Widersprechen – und damit den Ball des Argumentations- bzw Meinungs-Ping-Pong weiterlaufen lassen?
Beides widerstrebt mir gründlich!
Moment mal! Wer ist dieser Kerl denn überhaupt, dass ich meine Lebenseinstellung, meine Werte ihm gegenüber rechtfertige?
Ich muss ihm nicht gefallen! – Und damit muss er leben!
Und mal so ganz unter uns …
Nicht jedes Brauchtum ist rein(e) Kotzkultur – wie der „liebe Kollege“ so meint. Und einen Brauch einfach sterben zu lassen, nur weil er alt ist, bedeutet die Chance auf Evolution zu verhindern. Wer Vergangenes mit alt, unbrauchbar oder tot gleichsetzt, hat offenbar kein Gespür, keine Ahnung, keinen Blick dafür, WARUM dieses im Gestern Verwurzelte es bis in die Gegenwart geschafft hat. Dem allem muss also etwas innewohnen, dass zum Bleiben berechtigt und befähigt.
Sieht das noch jemand so ?
Pssst …! Dann lasst uns einfach unter der gemeinsamen Decke steckend an neuen Kapiteln liebgewordener Rituale und Bräuche schreiben – mit wunderschönen alten Federkielen, in die wir schon längst moderne Lamy-Spitzen gesteckt haben. 😉