Vollmond und Besenbruch

Die Welt schien an diesem Abend in loderndem Feuer der sich öffnenden Hölle zu versinken. Doch Raoul hatte keinen Blick für die Dramatik, mit der die Sonne ihren Abschied in Szene gesetzt hatte. Vielmehr beeilte er sich, bei Dunkelheit an dem alten, verlassenen Herrenhaus zu sein, das weit abgelegen außerhalb der Stadt lag. Einsam, verlassen, dem Verfall preisgegeben. So viele Parallelen zwischen seiner Person und dem einstmals sicher stolzen Anwesen! Hier hatte alles angefangen, hier sollte es enden. Endlich wieder Ruhe! Keine Erinnerung mehr an Hannah und Joel auf ihrem Arm! Kein „Papa, Papa“-Rufen mehr hören, das ihm die Luft abschnürte. Kein Knall der zuschlagenden Tür, der jedesmal erneut einem Messerstich gleichkam. Raoul wirkte nicht wie vierunddreißig, als er die Landstraße entlang ging, sondern eher wie ein alter Mann.

Es war bereits Nacht geworden, als er an der alten Bruchsteinmauer angekommen war, die das Anwesen umgab. Kurz und flüchtig war seine Aufmerksamkeit auf die alten Obstbäume und wildwuchernden Sträucher gelenkt. Huschte da ein Schatten durch den verwilderten Garten? Der Wind wehte ihm einen langen Bogen festen Packpapiers vor die Beine, als er auf das Haus zuging, dessen schwarze Silhouette sich trotzig gegen das gespenstische Licht des Vollmondes behauptete. Nur reflexartig sah Raoul zu diesem seltsamen blauen Leuchten hinüber, das zwischen dem belaubten Wildwuchs mal hier, mal da zu sehen war. Doch wirklich registrieren konnte er es nicht. Viel zu sehr war er mit sich und seinem Vorhaben beschäftigt. Konsequent steuerte er auf das alte Haus zu. Sein Ziel war das Dachgeschoss. Hier hatte er das erste Mal Hannah geküsst. Hier sollte sie aus seinem Inneren wieder verschwinden. Fahles Mondlicht erhellte das besagte Zimmer, in dem diese kurze, wunderbare Romanze begonnen hatte. Die doppelflügelige Tür zum Balkon stand auf. Unbeirrt schritt er bis zum schmiedeeisernen Geländer. Ein Blick in die Tiefe. Da taucht es wieder auf! Dieses seltsame blaue Leuchten zwischen den Bäumen. Untermalt von hohen, sphärischen Tönen – dazwischen tiefe, raue Stimmen. Plötzlich war mit einem Schlag der Garten stockfinster. Die blauen Lichter waren verschwunden! Schatten huschten ums Haus. Rauschen, Stöhnen, Heulen war hörbar. Doch Raouls Kopfkino war stärker und setzte sich gegen alle Geräusche und Schatten durch.

„Jetzt einfach wieder Ruhe finden“, sagte er nur leise, „nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen. Ja, das vor allem! Nichts mehr fühlen...!“ Er atmete einige Male tief ein. Die Umarmung dieser Nacht würde somit die letzte sein, die er jemals spüren sollte. Dann breitete er die Arme aus und ließ sich einfach ins schwarze Nichts fallen ...

Ein schmerzhafter Schlag in die Magengegend! Drehungen um die eigene Achse! Ein Hemdknopf, der sich nach einem Ruck schmerzhaft auf seinen Kehlkopf presste! Dann der Aufschlag auf hartem Steinboden.
Wie jetzt?

Er war doch gesprungen! Und doch fand er sich auf dem Boden des Balkons wieder? Benommen versuchte er zu realisieren, was mit ihm passiert war. Da zuckte er plötzlich zusammen, als er eine dunkle Gestalt mit langem, schwarzem Umhang in einiger Entfernung wahrnahm. Diese hantierte mit irgendetwas sehr Langem, Schmalem, Unhandlichem herum, bevor sie es laut fluchend in die Ecke schleuderte. Raouls suchte eine Erklärung für diese gespenstische Gestalt, die von der hinteren Ecke des Raumes auf ihn zu bewegte. Eine gespenstisch wirkende blassblaue Aura umgab ihren Kopf, als bündle sich das Mondlicht in ihren Haaren und erhellte ihr Gesicht so weit, dass er eine zornige Miene wahrnehmen konnte. Raoul lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie vor ihm stand. Ihr Gesicht erinnerte ihn an dämonische Fratzen in einschlägigen Horrorfilmen. Doch besonders ihr Blick war es, der ihm bis ins Mark drang. Einen Moment dachte Raoul daran, vielleicht in der Hölle gelandet zu sein und nun die erste Begegnung mit einem der hier Dienst habenden Kreaturen zu haben.

„Was machst du um diese Zeit ausgerechnet in diesem Haus“, fragte die Gestalt, die sich als Frau mittleren Alters entpuppte.
Mit zusammengekniffenen Augen, aus denen Blitze zu zucken schienen, kam sie auf ihn zu. Mit zornigem Blick, der den Anschein erweckte, als hätte er die Macht, wie ein Schwert in sein Inneres vorzudringen, lähmte sie ihn.

Mit einer Stimme, die so rau und von dämonischer Tiefe war, dass Raoul glaubte, an Luzifers Vorzimmerdame geraten zu sein, raubte sie ihm geglichen klaren Gedanken!
„Das ist meine Sache“, brachte er irgend über seine Lippen und wusste noch immer nicht einzuschätzen, ob er im Dies- oder Jenseits gelandet war.

„Nicht ganz! Nicht, wenn du dich so in meine Angelegenheiten stürzt!“
„Tue ich das? – Hm. War nicht meine Absicht. Ich wollte eher ein für allemal von der Bildfläche verschwinden – eben um niemandem mehr im Weg zu sein. Wieso bin ich eigentlich hier auf dem Balkon? Wer sind Sie und wo kommen Sie so plötzlich her?“
„Von Osten. Bin auf dem Jungfernflug gewesen! Oh, Mann! Ich könnte platzen! Der ganze Aufwand für den Teufel!“
„Was für ein Aufwand? Und Jungfernflug ...? – Was ...?“

„Ja, Jungfernflug! Und du verdammter Idiot springst mir einfach auf den Besen! Weißt du eigentlich, was es heißt, sich einen neuen Besen zu beschaffen? Den kann man nicht einfach im Handel kaufen, der wird angefertigt! Individuell! Und dann muss er persönlich aus dem kleinen Kaff im Harz abgeholt werden! Mit Bahn und Bus hergeschafft, um ihn hier, im Kreise der anderen bei Vollmond mit einem aufwändigen Ritual zu magisieren! Damit aus dem Rohling ein flugfähiger Besen wird! Zu hoch? – Ach, vergiss es, Vanlig!“ Raoul schwieg eine Weile und sah die Frau verständnislos an.

„Vanlig? Wer ist das denn? Verwechseln Sie mich?“
„Nein, Vanligs sind unverwechselbar arrogant und dämlich. – Normale Menschen. Bei uns heißen sie Vanligs. – Aber das tut nichts weiter zur Sache. Wichtiger ist, warum du nachts hier in der Einsamkeit auf fremden Balkonen herum hampelst“, zischte sie ungehalten. „Wenn ich nicht gewesen wäre – du könntest tot sein!“
„Gut erkannt! Tragisch, dass Sie mir gerade auf der Zielgeraden in die Parade fahren!“
„Was war das? Ich bin dir in die Parade gefahren? Weil ich dich gerettet habe?“ Ihre Stimme hatte etwas Dämonisches! „Das heißt, ich hätte dich einfach aufschlagen lassen sollen? Dann hättest du dein Ziel erreicht und ich meinen Besen noch?“ Ihr kurzer Aufschrei glich dem Brüllen eines Raubtieres. Beim ruppigen Griff in Raouls Jacke drangen ihre Nägel wie Krallen durch den Stoff und zerkratzen seine Haut. Mit ungeheurer Kraft zerrte sie ihn hoch. Für einen Moment konnten sich ihre Nasenspitzen fast berühren. Böses Funkeln in ihren Augen, ließ sein Blut in den Adern gefrieren. Aufs Schlimmste gefasst, wurde er jedoch plötzlich von ihr fortgestoßen! Wild gestikulierte sie mit ausgestreckten Armen im Mondlicht. „Mensch! Welch Geistes Kind bist du? Weißt du überhaupt wovon du sprichst“, herrschte sie ihn an! Ihr langer schwarzer Umhang flatterte trotz Windstille wie in einem Orkan. Mit den Fingern in ihre mondlichtbündelnde Mähne greifend, fuhr sie herum und kam erneut auf ihn zu. Stumm legte sie ihre rechte Hand auf seine Stirn, die linke in Höhe seines Nabels auf seinen Bauch. Mit geschlossenen Augen atmete sie tief ein. Raoul wagte nicht, sich zu bewegen. Totenstille. Plötzlich weitere wilde Gesten erwartend, registrierte er irritiert, dass sich ihre Gesichtszüge entspannten. Jegliche Härte, alles Dämonische verschwand. Abrupt trat sie zur Seite, schwang mit ausladender Bewegung das schwarze Cape von ihren Schultern und breitete es wie eine Picknickdecke auf dem Balkon aus. Den Rücken an die Hauswand gelehnt nahm sie darauf Platz. „Komm, setz dich.“
Ihre Stimme klang auf einmal sanft, weich und warm. Raoul hatte Probleme, die Eindrücke der letzten Augenblicke zu sortieren. Er gehorchte ohne Widerspruch, ohne Fragen zu stellen,

einfach so. Die Frau fuhr erneut mit beiden Händen durch das Haar, das immer noch an lichtbündelnde Glasfasern erinnerte. Er nahm skeptisch an ihrer linken Seite Platz. Seine Prellungen verschafften ihm die Gewissheit, dass sein Sturz in die Tiefe ihn zwar nicht das Leben gekostet hatte, wohl aber seinen klaren Verstand. Die Schmerzen ließen ihn leise aufstöhnen, als er sich setzte.

„Moment“, meint sie nur, gestikulierte in Richtung Mond und strich dann ganz zielsicher über die lädierten Stellen seines Körpers. „So, das gibt sich bald. Und nun zu dir! Du wolltest dir also wirklich das Leben nehmen?“
„Ja. Aber woher wissen Sie das? Und wieso duzen Sie mich?“

„In so einer Situation ist kein Platz mehr für Eitelkeiten, Raoul. Nenn mich einfach Bogawena. Das passt schon.“
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Ich kenne ihn eben. Und weiß, dass dich deine Freundin mit dem Kind verlassen hat. Das Kind, das nicht einmal deines war, weil sie bereits schwanger in dein Leben getreten ist. Du hattest dich ihrer angenommen. Sie zu der Frau an deiner Seite erklärt und ihr Kind zu deinem Sohn. Dieses kleine Wesen ist dir ans Herz gewachsen, als wäre es dein eigenes. Ich weiß, wie bitter es ist, Menschen zu verlieren. Doch selten habe ich erlebt, dass jemand soviel Verlust auf einmal verkraften musste. Deine kleine Familie und vorher alle Freunde, die dich vor ihr gewarnt haben. Sie war nach all dem, was du ihr gewesen bist, was du für sie und ihren Sohn getan hast, so maßlos undankbar. Zu dem Trennungsschmerz kommt diese bittere Enttäuschung und die Selbstzweifel...“

Raoul starrte sie ungläubig an. „Woher weißt du das alles?“
„Ich habe es von dir erfahren, als ich meine Hände auf Stirn und Bauch gelegt habe. Frauen wie ich können in einem kleinen Ritual die Kraft des Mondes anzapfen und besondere Energien in uns freisetzen. Diese Zeremonie ist von euch Vanligs nicht einmal erkennbar ist, wenn ihr direkt zuschauen könnt. Du hast sicher lediglich meinen flatternden Umhang und meine lichtblauen Haare wahrgenommen, nicht wahr? Das ist alles, was von Vanligs gesehen wird, während Frauen wie ich durch das Ritual im Licht des Vollmondes die Möglichkeit bekommen, in deinen Gedanken und Gefühlen lesen, wie in einem offenen Buch.“
„Was? Wer oder was bist du? – Das geht hier doch nicht mit rechten Dingen zu!“
„Je nachdem, wie du ‚rechte Dinge‘ definierst. Hier ist einiges im Spiel, was du mit Naturwissenschaften nicht greifen kannst. Stimmt.“
Raoul erinnerte sich, dass diese Frau vorhin von einem Besen gesprochen hatte und sah sich

nach dem langen Gegenstand um, der in einiger Entfernung auf dem Boden lag.
„Jetzt sag nicht, du bist sowas wie eine Hexe!“
„Nenn es, wie du willst.“ Bogawena lachte, als sie sein ungläubiges Gesicht sah. „Es gibt so viel mehr als ihr Vanligs euch träumen lasst! Energien und Kräfte, die nicht mit den Naturgesetzen konform sind! Frauen, die anders sind! Solche mit besonderen Fähigkeiten und Kenntnissen! Und zu denen zähle ich halt auch. Du siehst diesen blauen Schimmer um meinen Kopf? Die Haare, die anscheinend das Mondlicht bündeln? – Das ist nur eines der unverkennbaren äußeren Zeichen. Eines. Ein weiteres hast du als deine Lebensrettung kennen gelernt. Du bist mir beim Sturz direkt vorne auf den Stiel meines Besens gefallen. Dann sind wir beide herumgewirbelt und als ich trotz des lädierten Fegers mein Gleichgewicht wieder hatte, konnte ich dich gerade noch am Kragen erwischen und wieder mit nach oben zerren. Sonst wärest du erbarmungslos hart auf den Steinboden der Terrasse geschlagen.“
„Das war meine Absicht! Ich will einfach nicht mehr! Nicht mehr Hannahs Gesicht vor mir sehen, nicht mehr Joels „Papa...Papa“ hören, und nichts mehr von dem spüren, was in mir tobt. Ich habe das Gefühl, es würde mich innerlich zerreißen.“
„Ja, ich habe deine Qualen wahrgenommen, die du im Moment aushältst. Aber, hey! Raoul! Billige Hannah nicht mehr zu, als sie dir sowieso genommen hat! Ist sie es wert, dass du ihr nun noch das, was dir geblieben ist, hinterherwirfst? Dein Leben? Wem ist damit gedient?“ „Keine Ahnung! Ist mir auch egal!“
„Du bist so ein warmherziger, ein besonderer, ein wunderbarer Mensch, Raoul. Gerade solche, wie du es bist, gibt es heute so selten.“
„Klar, solche Idioten wie mich, kann es nicht genug geben, was?“
„Du bist kein Idiot. Du hast nur mehr Herz als kühlen Verstand. Verrückt, dass auf der einen Seite jemand wie du so viel Herzlichkeit besitzt, die er einfach verschenken möchte, und es auf der anderen Seite niemanden zu geben scheint, der sich daran wärmen möchte. Doch der Schein trügt! Da draußen gibt es viele, die darunter leiden, dass die Welt immer kälter wird! Jemand wie du setzt da die entscheidenden Zeichen!“
„Ich setze keine Zeichen! Sowas wie mit Hannah passiert mir nicht noch einmal! Nie! Das ertrage ich nicht!“
„Hannah! Sie ist Vergangenheit! – Konzentriere dich auf das, was kommt!“
„Ja, eben“, sagte Raoul trotzig.
„Ja eben? Was heißt das jetzt konkret? Du willst dich verändern? – So, dass du nicht noch einmal Gefahr läufst, Liebe zu erfahren? Und du denkst, das wäre der Weg, der das Leben

lebenswert macht? – Ha! Liebe ist immer ein Wagnis. Aber selbst das Scheitern kann nicht so schlimm sein, wie die Tatsache, sie nie mehr zuzulassen!“
„Hör auf mit diesem pseudoweisen Gefühls-Blabla! Wenn du mich schon zum Überleben zwingst, dann nimm auch hin, dass ich es so gestalten werde, wie ich es ertrage!“

„Okay – dann war es wohl ein Fehler.“ „Was war ein Fehler?“
„Deinen Körper vor dem Tod zu retten.“ „Meinen Körper?“

„Ja, denn dein Inneres scheint wohl schon längst tot zu sein – oder gerade abzusterben. Ich kann nicht abschätzen, wie viele Menschen heutzutage mit abgestorbenen Seelen herumlaufen, weil sie sich vor ihren Gefühlen fürchten. Etwas von sich zu geben, etwas zu nehmen, Nähe zu erleben. Dabei bedarf es gerade deshalb solcher Menschen, wie dich! Jedenfalls hatte ich dich bis eben so eingeschätzt.“

„Muss ich das jetzt verstehen?“
„Ja. Solltest du. Du bist eigentlich ein Mensch mit so viel Herz, dass du in der heutigen Welt so viel bewegen könntest. Also – mal im Klartext: Es ist nachvollziehbar, dass du deinen Körper verhüllst, wenn draußen die Temperatur sinkt. Aber es ist absolut unlogisch, wenn du dein Herz verhüllst, weil die Welt immer kälter wird. Verstehst du, was ich sagen will?“
„Ich kann nicht die ganze Welt retten. Und will es auch nicht!“
„Nicht die ganze Welt. Aber verweigere dich doch nicht grundsätzlich! Nicht dem einen Menschen, der genau auf einen wie dich wartet! Dem, der die fehlende Hälfte in dir ist!“
„Bla bla bla. Leute kennen lernen, neue Freunde suchen, Freunde gewinnen. Ich will das nicht mehr!“
„Freunde kann man sich weder suchen, noch machen oder gewinnen! Freunde muss man entdecken! Mit offenen Augen, aufmerksamen Ohren und mit einem Inneren, wie du es hast...!“
Schweigend saßen sie Schulter an Schulter da und starrten auf den Vollmond. „Glaubst du eigentlich wirklich selbst, was du da so erzählst?“ Raouls Gesicht war sehr ernst.
„Ich bin sogar davon überzeugt!“
„Ich nicht. Ich sehe im Moment keinen Sinn im Leben.“
„Es hat auch keinen! Bis auf den, den du ihm gibst! – Mensch, hänge dein Herz nicht an jemanden, dem du nichts bedeutest! Das ist reine Selbstzerstörung! Aber es gibt doch noch mehr Frauen, als nur diese Hannah!“

„Sicher, Bogawena. Die Welt ist voll von Frauen, die nur auf mich warten. Ganz bestimmt! Die Frage ist nur, warum ich ihnen nie begegne.
„Vielleicht nur bisher nicht. Aber du hast doch noch ein ganzes Leben vor dir. Mach dich auf den Weg und lass dich auf Neues ein. Wer weiß, vielleicht begegnet sie dir schon morgen früh, vielleicht nächste Woche...“

„Vielleicht, vielleicht ...! Warum nicht sofort? Oder schon heute Nacht“, ergänzte er.
„Tja, wer kann schon sagen, wer wann deinen Weg kreuzt?“
„Möglicherweise muss ich gar nicht mehr darauf warten. Kann es nicht sein, dass sich da schon die entscheidenden Wege gekreuzt haben? Zum Beispiel deiner und meiner?“ Bogawena stand auf und trat bis an das schmiedeeiserne Balkongeländer. Sie spürte seine Blicke, wie er ihre dunkle Silhouette im Gegenlicht des Mondes betrachtete. „Sehe ich dich wieder?“ fragte er leise.

„Wenn es sich ergibt. Wer weiß? – Warum fragst du?“
„Es läge mir sehr viel daran. Vielleicht sollte ich mich nicht länger fragen, wer mir fehlt, wo und wie ich ihn finde, sondern mir jeden Moment bewusst machen, wer da ist! Wen ich habe! Jetzt zum Beispiel! Sagtest du nicht, Freunde müsse man entdecken ...?“

Raoul wachte vom ersten Vogelgezwitscher auf. Noch immer saß er auf dem Balkon, den Rücken an die Hauswand gelehnt. ‚Wie wirr der Vollmond einen träumen lässt‘, dachte er und stellt plötzlich irritiert fest, dass der Gedanke an Hannah und Joel nicht mehr so weh tat. Vielmehr fühlte er in sich eine Wunde, die durch behutsame Behandlung langsam zu heilen begann. Und das alles nur wegen dieser Halluzinationen, die er mit trüben Gedanken bei Vollmond hatte!

„Hexen“, lachte er. „Ha! So ein Blödsinn!“
Kopfschüttelnd schlenderte Raoul aus dem Haus und stolperte über einen dicken, zerbrochenen Holzstiel. Neben einem nicht weit entfernt liegenden Reisigbündel lag ein Bogen Packpapier, auf dem er einen Aufkleber mit einer Adresse im Harz entdeckte ...

© Copyright Barbara Kloska 
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