Weidenweiber

Blutrot glühte der Himmel, als müsse die Erde in lodernden Flammen versinken. Obwohl ich eigentlich noch vor der Dunkelheit zuhause sein wollte, musste ich mir die Zeit nehmen, dieses Naturschauspiel mit der Kamera festzuhalten. Für Lambert. Er war mit so einfachen Dingen glücklich zu machen. Besonders wenn es Prallelen zwischen Deutschland und seiner Heimat im Kongo gab, konnte er sich freuen, wie ein Kind. Mit einem grandiosen Farbspiel hatte die Sonne ihren Abschied in Szene gesetzt. Hier genau so, wie Lambert es aus Afrika kannte. Aber jetzt wurde es Zeit! Zwar bereute ich keine Minute, aber nun musste ich doch ganz schön kräftig in die Pedalen treten! War die alte Landstraße auch früher so endlos lang? Oder sollte ich die Kondition einer vierzigjährigen doch überschätzt haben? Als ich an dem kleinen Flusslauf vorbei kam, stieg ich ab, um zu verschnaufen. Postkartenidylle im Dämmerlicht. Nichts, was ein weiteres Foto wert gewesen wäre.

Bis auf diese majestätische Weide!
Dunkel, gewaltig und mystisch zeichnete sich ihre Silhouette im Gegenlicht des Mond. Mir fielen die alten Spukgeschichten wieder ein, die man sich im Dorf über sie erzählte. Eine unheimlicher als die andere! Warum war ich von diesem Baum so fasziniert? Wegen oder eher trotz der schaurigen Erzählungen? Egal, sie tat es einfach und ich ging auf sie zu. Es war inzwischen völlig dunkel geworden. Kein Wind, kein Blätterrascheln. Nichts! Doch – huch! Ich zuckte kurz zusammen. Was war das? Ein leichter Luftzug riss mich aus den Gedanken. Kaum wahrnehmbar. Nicht mehr, als ihn der Flügelschlag einer großen Hummel bewirkt, die mir ganz nah am Gesicht vorbeifliegt. Doch als ich weiterging, umwehte mich eine stärkere Windböe! Das konnte doch keine Einbildung sein! Jedenfalls nicht, wenn jetzt sogar meine Haare durcheinander wirbelten, als wäre ein Auto an mir vorbeigerast! Ungewöhnlich war, dass sich an der Weide kein Blatt bewegte! Seltsam! Und woher kamen plötzlich die Stimmen? Hier war doch weit und breit niemand! Wurde ich verrückt? Mein Herz schlug bis zum Hals, aber ich vermochte nicht umzukehren! Wieder dieser Luftzug und dann lautere Zurufe. Der Mond richtete nun sein Licht einzig und allein auf diesen einen Baum! Silbernes Funkeln im Laub. Die Zweige bewegten sich wie ein Schleier zur Seite und fielen kurz darauf sanft wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Der Blättervorhang war zum Greifen nah. Dahinter ein Licht, so hell dass mir bald Ringe vor den Augen tanzten. Meine Anspannung wuchs! Meine Neugier auch! Jeder Herzschlag glich einem Paukenschlag! Immer schneller werdend! Ein instinktives Warnsystem? Sollte ich jetzt besser den schnellen Rückzug antreten? Nein! Meine Neugier siegte über die Angst! Vorsichtig schob ich die Zweige wie Fäden in einer Geisterbahn zur Seite. Zögerlich wagte ich einen weiteren Schritt nach vorn. In diesem Moment verstummten schlagartig die Stimmen. Gespenstische Stille. Die Festbeleuchtung war dem fahlen Mondlicht gewichen. Allein unter dem mächtigen Astgewölbe blinzelte ich durch das Laub gen Himmel.
“Endlich! 

Sei uns allen herzlich willkommen, Sophie!“ hörte ich eine flüsternde Stimme. Wilhelmina, die alte Hebamme aus unserem Dorf, die alle nur liebevoll Mina nannten, kam auf mich zu. Ihr Kopf war von einem blauen Schimmer umgeben und ihre Haarspitzen sahen aus, als bündelte sich das Mondlicht in ihnen wie in Glasfasern. Angst schnürte mir den Hals zu. “Was ist das hier?“ brachte ich nur stotternd heraus. “Es ist alles in Ordnung, du brauchst keine Angst zu haben. Du bist zuhause.“

“Wie?... Wo? Zu...was?.. zuhause?“ flüsterte ich mit trockener Kehle einige Schritte rückwärtsgehend. Dann drehte ich mich eilig um, und wollte nur noch weg! Doch die Alte war schneller! Ohne zu verstehen, wie sie mich überholt hatte, stand sie plötzlich wieder vor mir. Mit ausgebreiteten Armen stellte sie sich mir in den Weg. “Halt!“ befahl sie. „Bleib hier!“ Etwas in ihrem Unterton ließ jeden Widerspruch im Keim ersticken.

Wie aus dem Nichts tauchten immer mehr Gestalten auf. Jede umgeben von dieser bläulichen Aura. “Du bist eine von uns! Ich habe es schon immer gewusst! Irgendwie gespürt! Und du, Sophie? Hattest du nie die Vermutung, dass dich etwas von den anderen Menschen im Dorf unterscheidet?“
Ich hatte keine Ahnung, worauf Mina hinaus wollte, war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles in mir schrie nach einer passenden Gelegenheit zur Flucht! Und nach Lambert! Wie oft hatte er mir von Naturgeistern, Aberglauben und überlieferten Geschichten Afrikas erzählt! Selbstverständlich, als aufgeklärter Mensch, der hier Medizin studiert hat und als Arzt arbeitet, bewahrte er sie zwar als ein Stück seiner Wurzeln in sich wie einen Schatz. Aber daran glauben.... Niemals! Und ich bin ebenso fest davon überzeugt, dass es nichts gibt, was die Naturwissenschaften nicht erklären können! Dennoch hätte ich jetzt ein Königreich dafür gegeben, wäre Lambert hier aufgetaucht und hätte mir die mystische Welt erklärt! Doch er war nicht da! Und ich kam hier nicht weg! Mein Körper war wie gelähmt. “Hast du nicht auch das Bedürfnis, draußen zu sein, wenn der Vollmond die Welt in dieses ganz besondere Licht taucht? Spürst du nicht auch diese Energie in dir aufsteigen, wenn du in seinem Licht stehst?– Hattest du nicht auch das Gefühl, dass diese Weide hier dich magisch anzieht?“ Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, die ich zu einer passenden Antwort ordnen wollte. Doch dieses blaue Licht, die gesamte Atmosphäre vereinnahmte mich und ich hörte mich selbst stammeln: “Ja, ... äh, ich .... angezogen....ich wollte sie mir mal näher ansehen. Weil..., wegen der Geschichten, die man sich im Dorf von ihr erzählt...“ “Und da kommst du nachts? Wenn es noch unheimlicher ist? – Nein, Sophie, das ist es nicht, was ich meine. Die Weide hat dich als eines ihrer Wesen erkannt und dich zu sich geholt. Nun ist es an mir, ihrer Hüterin, dich einzuweihen.“
Ihre Stimme hatte den harten Befehlston wieder verloren und klang vertrauenerweckend, liebevoll und warm. Beruhigend legte Mina ihren Arm um mich, führte mich in die Nähe des Baumstammes. Stumm schaute sie nach oben. Ich tat es ihr gleich. Diese gewaltige Krone dort oben am Ende des mächtigen Stammes! Ich kam mir hier so winzig vor. Wie ein Nichts, ein Niemand, so unwürdig! Mina stand da und ließ mir Zeit, die Eindrücke zu verinnerlichen. “Spürst du es?“ fragte sie leise, „Spürst du die

Magie dieses Ortes? Menschen können sie nicht erfassen, ahnen nur, dass dieses Fleckchen Erde nicht wie jedes andere ist. Sie können so vieles nicht erklären, weil Naturwissenschaften hier nicht greifen. So umranken sie ihr Unwissen mit Geschichten, die ihnen einen Umgang mit dem Unerklärlichen ermöglichen.“ Dann trat sie einige Schritte zurück. Mit beiden Armen beschrieb sie einen großen Halbkreis gen Baumkrone. Lautstark, als müsse das Wichtigste durch die Gewalt der Stimme unterstrichen werden, rief sie: “Das hier ist unsere Anlaufstelle, unser Reich, unsere Zuflucht – einfach: unser Zuhause!“ Dann nahm sie ihre Stimme wieder zurück und sagte: “Hier können wir sein, wie wir sind. Hier ist das normal, was den anderen Angst einflößt! Was sie als dämonisch und verhext verfluchen.“ Ich starrte erneut in das gigantische Blätterdach, während sie neben mir fast flüsternd hinzufügte: “Eben weil sich hier unsere Kräfte bündeln! Immer, wenn wir diesen Zusammenhalt spüren, den Mond wirken lassen und uns im Schutz der Weide wissen. – Schau dir die Frauen an...Sie alle haben eines gemeinsam!“ Noch immer prasselten die Eindrücke auf mich ein! Gefangen von einem Rest Angst, von Anspannung verwirrt, fasste ich nur das sichtbare Phänomen in Worte: “Gemeinsam ...? – Ja, einen blauen Schimmer um den Kopf.“ Zum Glück blieb jegliche Reaktion auf diesen blöden Kommentar aus. Mina fuhr gelassen fort, als hätte ich die normalste aller Antworten gegeben. “Ja, und das ist eines der untrüglichen Zeichen für die Andersartigkeit.“

Das schummerige Licht unter dem Blätterdach der Weide hellte auf, bekam die Leuchtkraft zurück, die ich von außen gesehen hatte. Zahllose Menschen standen um mich herum und lächelten mich an. Mina hielt mir feierlich die glänzende, glatte Rückseite ihres großen Amuletts entgegen. Ich erschrak etwas, als ich im Spiegelbild auch um meinen Kopf dieses seltsame Erscheinung feststellte. Ein Trugbild? Auch eines dieser übernatürlichen Phänomene? Ein Spiel, das Mina mit mir trieb? In meinem Kopf wirbelten unzählige Fragen durcheinander. Mich wunderte es fast selbst, dass die erste, die heraussprudelte, sogar sinnvoll war:

“Und was bedeutet jetzt diese Andersartigkeit?“ “Dass du eine seltene Begabung hast, außergewöhnliche Kräfte, ungeahnte Möglichkeiten. Doch du musst dich auf Neues einlassen, Unbekanntes zulassen! – Nur dann kannst du deine besonderen Fähigkeiten entdecken, weiterentwickeln und gezielt einsetzen. Welche das sind, wo deine persönlichen Stärken liegen, musst du selbst noch herausfinden.“

Dann kamen die anderen auf mich zu, um mich zu begrüßen. Sie stellten sich vor, legten eine Hand auf meinen Kopf, die andere in Höhe des Nabels auf meinen Bauch. Sie schlossen ihre Augen und atmeten tief ein. Mina wies mich an, es ihnen gleich zu tun. Schon beim ersten Luftholen huschten mir unsortierte Bilder durch den Kopf. So, als ob ich einen Schnelldurchlauf des Lebens meines Gegenübers zu sehen bekam. Während die Vielzahl der Eindrücke mich eher verwirrte, schienen die anderen mit dem, was sie über mich erfuhren, zufrieden zu sein. Freundliches Lächeln, ermutigende Worte das Gefühl willkommen zu sein ließen meine Anspannung weichen.

“Diese Phase der Unsicherheit, der tausend Fragen und Zweifel hat jeder Neuling durchgemacht,“ raunte mir Mina zu, als sie noch immer die große Skepsis in meinem Gesicht las. „Doch bereut hat es noch keiner, der sich erst einmal dazu entschlossen hatte, diesen eingeschlagenen Weg zu gehen.“ Durch das Stimmengewirr hörte man aus den Zweigen das Krächzen einer Krähe. Mina schaute nur kurz nach oben, pfiff laut, dann stürzte sich der schwarze Vogel herunter und landete zu unseren Füßen. “Das ist Corvida, meine Krähe. Jeder von uns hat ein Tier, das ihm als Medium dient. Das ist ganz typisch für Leute unseres Schlages.“
“Und ich muss mir jetzt auch eines suchen?“
“Keinesfalls! Niemand kann voraussagen, wann und wie du mit deinem Medium zusammentriffst. Ebenso wenig, welches Tier gerade für dich das richtige ist...“
“Wie weiß ich, dass es nicht irgendeine hergelaufene Kreatur ist, die da meinen Weg kreuzt?“
“Es ergibt sich und du wirst es wissen, wenn es soweit ist. Hab Geduld und schule dein Gespür für das Andersartige, Besondere, das Ungewöhnliche....Doch in diese Geheimnisse wirst du noch früh genug eingewiesen.“
“Ich weiß gar nicht, ob ich die alle wissen will. Mina, ihr seid alle sehr nett zu mir, aber ich kann das alles noch nicht so richtig zuordnen. Seid ihr eine Sekte, die eine Naturgottheit verehrt? Oder esoterische Spinner? Oder Aussteiger? Oder wozu darf man euch zählen? “ Hatte man mir meinen unqualifizierten Kommentar mit dem blauen Schimmer um den Kopf noch nachgesehen, löste diese Bemerkung nun doch eine gewisse Verärgerung aus. Zumal man mir mit der Begrüßungszeremonie wohl gezeigt hatte, dass ich dazu gehörte. Ein Raunen ging durch die Menge. Sogar die Weide schien zu reagieren! Schüttelte sie sich? Verdrehte sie ihre Krone, angesichts so viel Uneinsichtigkeit? Ärgerliches Gemurmel ging durch die Reihen. Mina hob die Hand und gebot damit Ruhe.
“Ich merke, du wirst uns viel Arbeit machen, bis du wirklich verstehst, worum es geht. Wir sind nichts von alle dem. Wir haben alle eine vererbte Begabung, ein Gespür für Übersinnliches und besondere Fähigkeiten. – Wären wir einige Jahrhunderte früher geboren, hätte man uns auf dem Scheiterhaufen verbrannt.“
“Ach, ihr nennt euch Hexen?“ rutschte es mir heraus.
Mina blieb ernst.
“Ja, wenn du es so nennen willst.“
“Und ihr seid alle mit dem Besen gekommen?“
“Du hast immer noch nicht verstanden, was hier passiert, oder? Du denkst noch wie ein Mensch! Eine Hexe denkt mit Kopf, Herz und Bauch! Lass dich doch auf neue Erfahrungen ein! – Was glaubst du, warum du auf dem Weg hier her zur Weide zwischendurch einen starken Luftzug gespürt hast, obwohl es absolut windstill war?“
Mein Gesicht wurde ernst, denn ich konnte mir nicht erklären, woher sie das wusste. “Wir haben dich

gesehen, Sophie. Wir haben dich fliegend begleitet, auf dem Weg zur Weide.“
“Auf dem Besen geflogen?“ fragte ich wieder vor Ungläubigkeit strotzend. “Ja! – Die Königsdisziplin. Nicht sichtbar, nur spürbar zu sein! Nah über dem Boden zu fliegen, ohne dass sich etwas in der Vegetation bewegt. – Du hast uns also wahrgenommen. Sehr gut.“ Mina war scheinbar etwas verärgert, dass ich dieses Grinsen nicht aus meinem Gesicht bekam. Sie fühlte sich wie der Rest der Gruppe nicht ernst genommen. Doch dann schwenkte sie um, grinste überlegen und sagte: “Ja! Sowas wie Ninja - Hexen! Man sieht sie nicht, aber sie sind spürbar gegenwärtig. Sei also auf der Hut! – Mach sie dir nicht zu Feinden! Sie sind weitaus gefährlicher als sichtbare Gegner! Du siehst sie nicht, aber wenn du sie spürst, kann es auch durchaus weh tun!“
‚Gleich werde ich sicher aufwachen,’ dachte ich.
Mina wurde wieder ernst, als sie merkte, dass die Heiterkeit aus meinen Gesichtszügen verschwunden war. Sie drückte nun meinen Rücken an den mächtigen Stamm und ging einige Schritte zurück. Corvida flog krächzend auf, und verschwand im Grün des Blätterdaches. Unfähig zu jeglicher Bewegung verfolgte ich, dass sich Äste und Zweige bewegten, als ob ein Orkan an ihnen zerrte. Die Anwesenden schauten in die Baumkrone, dann zu mir und wichen zurück bis sie im Vorhang der Zweige stehen blieben.
Dort war es dann zuerst zu sehen, diese goldfarbene Licht, das aus der scheinbar aufbrechenden Rinde strahlte. Die Brüche zogen sich ins Geäst, bis selbst die Borke des Stamms sich öffnete. Wie eine zu eng gewordene Haut, die in unzählig viele kleine Stücke zerrissen wird und den bisher verborgenen leuchtenden, goldenen Körper freigibt. Die Baumkrone bewegte sich, die Lichtadern wurden größer. Dann waren Tausende feiner Strahlen auf mich gerichtet. Wie in einem Busch aus Lichtdornen stand ich da. Lichtdornen, die sich bewegten, auf meinem Körper auf- und ab wanderten. Doch sie verletzten nicht, sondern vermittelten eher ein Gefühl von Zärtlichkeit. Halt suchend ertasteten meine Hände hinter mir die Rinde des Stamms. Ich spürte, wie diese sich auftat bis meine Handflächen ganz auf einer warmen, glatten Fläche ruhten, von der harten Rinde eingerahmt. Wohlige Wärme durchflutete mich, eine unerklärliche Kraft stieg in mir auf. Es war, als ob die Weide Verbindung zu mir aufgenommen und mir etwas von sich geschenkt hätte. Unter meinen Händen fühlte ich, wie sich die Lücke wieder schloss. Sah, wie die Lichtadern im Geäst verblassten und die Weide ihre normale Erscheinung wiedererlangte. Noch immer benommen blickte ich in die erwartungsvollen Gesichter der Umherstehenden, denn das Schauspiel war scheinbar nur für mich wahrnehmbar. Sie standen noch immer wartend zwischen den Zweigen, aber wohl wissend, was gerade geschehen war. “Mina! Was ist hier mit mir passiert?“
“Die Weide ist, wie ich dir schon sagte, kein gewöhnlicher Baum. Wenn sie auch dir Anlaufstelle und Zuflucht sein soll, muss sie wissen, wie du bist, ob du auch im Innern eine von uns bist, es willst, es sein kannst. – Aber bei keinem von uns habe ich je diese Zärtlichkeit gesehen. Du bist zu Höherem

berufen. Ich denke, du wirst noch vor Neumond deine ersten Utensilien bekommen.“
“Was sollte das sein?“ “Ein Medium und einen Besen“
“Ja, ja....“ brummelte ich nur. Zu sehr beschäftigten mich die Erlebnisse der letzten Stunden. Es wurde erneut dämmerig, nur der Mond tauchte das Blätterdach in sein blaues Licht.
Während ich mich noch sammelte, waren die Anwesenden in Aufbruchstimmung. Ich war zu sehr mit mir beschäftigt, als dass ich mich über die Tatsache gewundert hätte, das sie durch den Blättervorhang ins Nichts verschwanden. Manche zu Fuß, andere setzten sich wirklich auf alte Reisigbesen und schienen sich spätestens zwischen den bodenlangen Zweigen in Luft aufzulösen.
Dann war ich mit Mina allein. Sie legte ihren Arm um meine Schulter, während sich Corvida krächzend auf ihrem anderen niederließ. “Ich werde dich jetzt nach Hause bringen lassen,“ sagte sie. “Vielen Dank. Mein Fahrrad lehnt dort hinten an der großen Buche. Mach dir keine Mühe.“ Zerschlagen ging ich los und stolperte über die eigenen Füße. Mina blieb zurück. Ich hörte, wie sie etwas murmelte, dann ein Zischen. Anschließend blitzte etwas auf und sie eilte hinter mir her. Triumphierend hielt sie einen Weidensteckling mit ersten zarten Wurzeln in der Hand.
“Hier, das ist ein Teil von ihr! Nimm ihn in deine Obhut und pflege ihn gut. Gib acht, dass er dir auf keinen Fall verdirbt!“ Ich merkte, wie die Kraft mich mehr und mehr verließ! Keine Spur von der Energie, die die Weide oder der Mond spenden sollten! Ich schnappte mir mein Fahrrad, da knallte es kurz und mein Vorderrad stand auf der Felge. Wütend warf ich das Mistding ins Gras und fluchte laut vor mich hin. “Warte,“ lachte Mina und eilte zurück. Ich hätte platzen können, bei dem Gedanken, jetzt diesen endlosen Heimweg zu Fuß gehen zu müssen! Was für eine bescheuerte Nacht! Wenn ich nur endlich aus diesem verdammten Traum aufwachen würde! – Doch statt dessen erlebte ich ihn! So realistisch, dass ich sogar die Steine fühlte, die sich schmerzhaft durch die dünnen Sohlen drückten! Ohne mich um Minas Verbleib zu kümmern, marschierte ich schimpfend in strammem Tempo los. Nach einer Weile bemerkte ich wieder diesen seltsamen Luftzug neben mir. Über meinem Kopf den Flügelschlag und das Krächzen der Krähe. Im fahlen Mondlicht tauchte Mina vor mir auf. “Nun warte doch, zum Donnerwetter! Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nach Hause bringe!“ Sie hielt tatsächlich einen Besen in der linken Hand, den anderen Arm energisch in die Hüfte gestemmt. “Nun komm schon! Hier, setz dich drauf. Den Rest mache ich.“ Corvida hockte sich auf ihre Schulter, nachdem Mina den Besen neben mir in der Waagerechten schweben ließ. Sie nahm ihr Amulett ab und verwob die Kette im Reisigbüschel. “Was machst du da? Mina, ich bin für weitere unerklärliche Phänomene einfach zu müde.“ “Eben darum solltest du jetzt mehr durch die Gegend laufen. Komm, setz dich und dann ab...“ Sie drückte mich seitlich auf den schwebenden Besen. Und du? Kommst du etwa nicht mit?“ “Nein,“ lachte sie, „ zwei Personen schafft das alte Ding nicht mehr. Aber keine Sorge. Du bist schnell zuhause und dann holt er mich hier ab. Das geht schon in Ordnung...“ Sie murmelte etwas Unverständliches zu Corvida, die sogleich aufflog. Der Besen folgte ihr, noch bevor

ich protestieren oder abspringen konnte. Über den Baumwipfeln versuchte ich mich nur noch auf dem Feger zu halten, der in waghalsigem Tempo dahin sauste. Mit zitternden Knien stieg ich ab, als wir wohlbehalten in meinem Garten gelandet waren. Dann war das ungewöhnliche Transportmittel samt Vogel auch schon wieder verschwunden. In der Hand hielt ich immer noch das leicht bewurzelte Stöcken und steckte es einfach in das Beet mit Sommerblumen, an der Hausecke.

Ich schlief wie eine Tote.
„Scheiß-Vollmond,“ sagte ich zu mir, als ich am Morgen aufwachte. „So wild habe ich noch nie geträumt! Die Füße und die Oberschenkel schmerzen sogar jetzt noch nach dem Aufwachen!“ Auf die Terrasse atmete ich tief die kühle Morgenluft ein, als hinter mir etwas raschelte. Eine dicke schwarze Katze bahnte sich ihren Weg zwischen Sommerastern, Ringelblumen, Schleierkraut und einem mannshohen Baum. Niemals hatte ich einen Baum ins Blumenbeet gepflanzt! Üppig, trotzig und stolz reckte eine Weide ihren Stamm dem Himmel entgegen. Im Sonnenlicht funkelte etwas an dem zartgrünen Laub. Kaum wahrnehmbar. Jedes ihrer Blätter war wie von aufgehauchtem Goldstaub gesäumt.
Die hängenden Zweige schaukelten sanft im Wind, als wollten sie zärtlich und schützend die Köpfe meiner Blumen streicheln.

© Copyright Barbara Kloska 
2025
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